
Julia Felber
Warum die Nadelbäume auch im Winter grün sind – ein Wintermärchen

Warum die Nadelbäume auch im Winter grün sind
Eine Geschichte von Jenny Mugridge, übersetzt aus dem Englischen von Julia Felber
Lange bevor die Menschen die Erde besiedelten, und als alle Tiere und Pflanzen noch sprachen, gab es einen ganz besonderen Winter, der das Schicksal aller Bäume in neue Bahnen lenkte.
Als alle Vögel in diesem Winter in den Süden flogen, um dort in der Wärme auf einen neuen Frühling zu warten, blieb ein verletztes Vögelchen zurück. Es versuchte, mit seinen Bekannten und Verwandten mit zu halten, war aber zu langsam, und als sein Schwarm ausser Sichtweite war, versuchte es einen Unterschlupf zu finden.
Es hüpfte am Waldrand entlang und versuchte erfolglos, mit seinem verletzten Flügelchen zu flattern. Der erste Baum, den das Vögelchen antraf, war eine schlanke Birke, die wie ein eleganter Kranichhals aus dem Boden ragte. Es fragte den Baum: “Oh du schöne Birke, magst du mir unter deinen Ästen bis zum Frühling Unterschlupf gewähren?”
Die Birke antwortete entsetzt: “Auf keinen Fall! Weisst du denn nicht, dass der Nordwind bald kommt? Ich muss mich um meine eigenen Blätter sorgen!”
Das Vögelchen seufzte und hüpfte zum nächsten Baum, eine enorme Eiche. Sie war gross und üppig wie ein Emu, und hoffentlich auch genau so stark. “Oh du mächtige Eiche, magst du mir unter deinen Ästen bis zum Frühling Unterschlupf gewähren?”
“NEIN!”, dröhnte die Eiche. “Wenn ich dich hineinlasse, denken alle, dass sie hier kostenlos bleiben können und dann habe ich bald keine Eicheln mehr”.
Das Vögelchen seufzte erneut und schaute sich verzweifelt um. Plötzlich erspähte es eine Trauerweide, deren Blätter sich wie die Federn eines Pfaus entfalteten. “Oh du fabelhafte Trauerweide, magst du mir unter deinen Ästen bis zum Frühling Unterschlupf gewähren?”
Die Trauerweide schüttelte sich. “Es macht mir nichts aus, wenn du über den Winter hier bleibst, aber nicht in MEINEM Geäst”. Sie gab sich nicht weiter mit dem Vögelchen ab.
Niedergeschlagen entschied sich das Vögelchen, sich eine Höhle zu suchen und hoffte, dass ein Eichhörnchen oder ein Häschen gewillt war, diese zu teilen. Als es durch das Unterholz hüpfte, wurde es von einer Fichte bemerkt. “Wohin soll's denn gehen, kleines Vöglein?”
Das Vögelchen erwiderte erschöpft: “Ich weiss es nicht, liebe Fichte. Keiner dieser Bäume will mir Unterschlupf gewähren und ich schaffe es nicht, in den warmen Süden zu fliegen. Ich befürchte, ich werde diesen Winter nicht überstehen.”
Die Fichte hatte Mitgefühl und bot sofort an, das Vögelchen in seinen Ästen unterzubringen. “Komm! Dies ist mein wärmster Ast, bleib hier solange du willst”. Das Vögelchen zwitscherte voller Freude.
Als das Vögelchen sich einnistete, stiess die Fichte eine benachbarte Kiefer an. “Ich helfe gerne”, meinte die Kiefer, “meine Äste sind zwar nicht warm, aber stark genug, um den Wind fernzuhalten.”
Ein Wacholderbaum bemerkte das Geschehen und meldete sich aufgeregt: “Ich habe genügend Beeren, bitte bediene dich den ganzen Winter lang!”
Das Vögelchen war dankbar für sein windgeschütztes, warmes Nest und die leckeren Beeren.
Aber die anderen Bäume im Wald waren nicht zufrieden.
“Es ist gefährlich, diese Eindringlinge einfach aufzunehmen”, zeterte die Birke.
“Wir haben so schon zu wenig Nahrung im Wald”, schimpfte die Eiche.
“Wieso kann es nicht dahin zurück, wo es herkommt?", meckerte die Trauerweide.
Und alle drei standen sie stolz und mit gutem Gewissen, dass sie alles in ihrer Macht getan hatten, ihren Wald vor Fremden zu beschützen.
In dieser Nacht kam der Nordwind an den Waldrand. Er vergötterte den Mond und in kalten, klaren Nächten tanzte er im Mondschein durch Wald und blies dabei alle Blätter von ihren Ästen. Der Nordwind liebte den Anblick kahler Bäume im Mondlicht, es war der perfekte Tribut an seinen geliebten Mond.
In dem Moment als er sich auf den Weg in den Wald machen wollte, hielt ihn sein Vater, der Eiskönig, für einen Moment zurück: “Tanze durch den Wald, mein Sohn, aber lasse die Bäume, die dem verletzten Vögelchen geholfen haben, in Ruhe.”
Als am nächsten Morgen die kalte Wintersonne aufging, fielen ihre Strahlen auf die kahlen Bäume im Wald. Nur die Fichte, die Kiefer und der Wacholderbaum waren noch in Grün gehüllt. Sie durften ihre Nadeln behalten, um den Hilfsbedürftigen zu helfen, und tun dies bis heute noch.
Über die Authorin: http://jennymugridge.com/
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